Atemfunktion
Die Bedeutung des Atems müsste nicht eigens hervorgehoben werden. Sie wird jedoch zu schnell als selbstverständlich und nicht besonders beachtenswert abgetan. Die Zellatmung findet schon im vorgeburtlichen Stadium statt. Das ungeborene Kind wird über das Blut der Mutter mit Sauerstoff versorgt. Unmittelbar nach der Geburt setzt die eigenständige Lungenatmung mit dem ersten Atemzug ein. Das eigenständige Leben beginnt. Mit dem letzten Atemzug wird das Leben ausgehaucht. Während dieser Zeitspanne versorgt uns ununterbrochen der Atem mit Leben. Es ist ein autonomes Geschehen. Wir müssen uns nicht willentlich für das Atmen entscheiden. Wir können aber willentlich eingreifen, im Gegensatz zu anderen autonomen Funktionen des menschlichen Organismus. Diese Schnittstelle zwischen autonomem und zentralem Nervensystem, zwischen bewusst und unbewusst, ist der Ansatzpunkt der Atemtherapie. Wir können unser autonomes Nervensystem erreichen und damit auch andere autonome Funktionen unseres Körpers. Es geht um ein bewusstes Wahrnehmen seiner selbst, es geht darum zu leben statt gelebt zu werden.
 

Körper
Der Mensch stellt eine Leib-Geist-Seele-Einheit dar. Die Atmung wirkt in jedem dieser drei Bereiche und spiegelt uns zugleich Eindrücke dieser Bereiche wider. Körperlich gesehen hat die Atmung die Funktion, unseren Organismus mit Sauerstoff zu versorgen. In der Einatmung – Inspiration – nimmt der Körper Sauerstoff auf, in der Ausatmung – Exspiration – wird das Stoffwechselendprodukt Kohlendioxid abgegeben. Um eine kontinuierliche Ver- und Entsorgung des gesamten Körpers, also jeder einzelnen Zelle, zu gewährleisten, ist die ununterbrochene Ein- und Ausatmung im Zusammenspiel mit dem Herz-Kreislauf-System und vielen weiteren Funktionen des Körpers notwendig. Ist das Atemgeschehen gestört, kommt es zu entscheidenden Einschränkungen der Lebensqualität und -funktionen bis zum Erlöschen des Lebens.

Geist
Seit jeher steht „Atem“ für „Geist“. Atmen heißt im Lateinischen „spirare“. Einatmung ist  „Inspiration“. Die Doppeldeutigkeit dieses Wortes weist auf die Bedeutung des Atems für den Geist hin. Inspiration ermöglicht geistige Kreativität. Aber auch unser Geist, unsere Gedanken schlagen sich auf die Atmung nieder. Positive Gedanken machen die Atmung weit und groß, negative Gedanken machen die Atmung eng und klein. Umgekehrt wird unser Geist von einer fließenden, weiten Atmung positiv als auch von einer stockenden, engen Atmung negativ beeinflusst.

Seele
Die geistige Komponente steht in engem Zusammenhang mit der seelischen. Dass unsere seelische Verfassung die Atmung nicht unberührt lässt, sagt uns der Volksmund: „das hat mir den Atem verschlagen“; „das schnürt mir die Kehle zu“; „da bleibt mir die Luft weg“; aber auch: „das macht mir das Herz weit“; „da konnte ich wieder aufatmen“. Seelische Einflüsse schlagen sich auf unsere Atmung nieder. Auch hier ist es so, dass eine fließende, weite Atmung die seelische Verfassung stabilisiert, eine stockende, enge Atmung auch seelische Enge hervorruft. Das Wissen um diese Berührungspunkte findet seinen Platz im Verständnis der psychosomatischen Medizin.  

Seismograph und Substanz
Unser Atem ist ein Seismograph. Er reagiert immer und sofort, ehe wir die Situation kognitiv erfassen – falls wir sie überhaupt mit unserem Verstand erfassen. Auch wenn in der Atemtherapie keine Diagnosen im klassisch-medizinischen Verständnis gestellt werden, zeigt das Atembild Veränderungen, die Ausgangspunkt für die atemtherapeutische Behandlung sind. Der Atem reagiert aber nicht nur auf körperliche, geistige und seelische Einflüsse, er ist selbst Substanz. Der Atem enthält für die körperlichen Funktionen den Leben spendenden Sauerstoff – und er ist das nicht Fassbare, das naturwissenschaftlich nicht Nachweisbare, das nicht Körperliche, er ist Geist, er ist das Bewirkende, er ist „Stoff“, wie Ilse Middendorf es ausdrückt. Er ist die Brücke zwischen innen und außen, zwischen Körper und Geist, zwischen dem Menschlichen und dem Transzendentalen.

Atemräume – unterer Raum
Im „Erfahrbaren Atem“ sprechen wir von drei Räumen des Leibes: dem unteren, dem mittleren und dem oberen Raum. Außerdem unterscheiden wir den Innen- und den Außenraum. Zu dem unteren Raum gehören das Becken und die unteren Extremitäten, also Beine und Füße. Das Becken mit dem Sitz der Geschlechtsorgane ist der Ort der vitalen Kraft. Die beiden Beckenhälften werden durch das Kreuzbein verbunden. Das Kreuzbein – os sacrale – ist der Punkt, an dem der Körper des Menschen, im Gegensatz zu dem der Tiere, in die Aufrichtung kommt. Aufrichtung ist nötig, damit sich Sprache und somit Geist entwickeln können. Aufrichtung selbst ist aber schon ein geistiger Akt und nicht primär eine Frage der Muskelstärke. Das Kreuzbein und das gesamte Becken sind zentraler Kraftort der „Mensch-Werdung“. Über die Leisten besteht die Verbindung zu den Beinen und Füßen. Über die Füße schafft der untere Raum die Verbindung zum Boden, zur Erde. Es geht darum, „Boden unter den Füßen“ zu haben, einen „Standpunkt“ vertreten zu können, „Standfestigkeit“ zu entwickeln, an einem zentralen Punkt verankert zu sein, damit uns unsere vitale Kraft zur Verfügung steht.

Atemräume – mittlerer Raum
Der mittlere Raum erstreckt sich vom Nabel aufwärts bis zur achten Rippe, also etwa bis zur Brustkorbmitte. Der mittlere Raum ist ein sehr intimer Bereich. Hier liegt die Individualität, das Selbst. Er ist der Ort unserer zentralen Kraft, unserer Mitte schlechthin. In diesem Bereich liegt das Zwerchfell, unser großer Atemmuskel. Es ist die zentrale Muskelplatte in unserem Körper, die Brust- und Bauchraum voneinander trennt. Im Auf- und Abschwingen der Atembewegung verbindet es aber auch die beiden Räume miteinander, massiert die Bauchorgane und fördert den gesamten Blutstrom. Das Zwerchfell – Diaphragma – wird von dem „nervus phrenicus“ innerviert. „Phren“ bezieht sich auf „Gehirn“, bedeutet aber auch „Seele, Gemüt, Geist“. Die Bezeichnung stammt aus dem antiken Griechenland. Im Zwerchfellbereich wurde das „Denken“ vermutet. Nerval wird diese Region von dem Solar-Plexus, dem Sonnengeflecht versorgt. Das sind stark verzweigte Nervenfasern des vegetativen, insbesondere parasympathischen Nervensystems, die auch große Bedeutung für die Versorgung des Darmes haben. Diesem „Denken“ maß man eine ganz bestimmte Dimension zu: gewinnt doch auch heute wieder der Begriff „aus dem Bauch heraus“ an Bedeutung und Wertigkeit. Es ist hier eine Intuition, eine Entscheidungsfähigkeit gemeint, die stimmiger und zuverlässiger ist als das, was der Verstand hervor bringt. Es ist wirkliche Weisheit.

Atemräume – oberer Raum
Der obere Raum meint den oberen Brustkorb, also Lungenbereich, Schultergürtel, Hals mit Kehlkopf und Stimme, Kopf und Arme. Der obere Raum ist – im Gegensatz zum unteren Raum – von einer sanften, aber essentiellen Kraft erfüllt. Hier befinden sich die Sinne, das Gehirn, alles, was den „bewussten“ Menschen ausmacht. Hier entfaltet der Mensch sein geistiges und seelisches Bewusstsein, das er zum Ausdruck bringt. Ein schönes Bild hierfür ist die Stimme. Sie sitzt an einer sehr empfindsamen Stelle des Körpers, dem Kehlkopf. Die Stimme ist leicht zu irritieren, drückt aber etwas sehr Individuelles aus. Als „persona“ wurde im Lateinischen die Maske eines Schauspielers bezeichnet, also eine Rolle, die er übernahm und hinter der er sich verstecken konnte. Gleichzeitig besagt dieses Wort aber auch, dass das, was durch die Maske „hindurch tönt“ – „per-sonat“ – der Mensch, die Persönlichkeit ist, die da dahinter steckt. Die Stimme ist unverkennbar. Sei es die Sprechstimme oder sei es die Gesangsstimme: Mit der Stimme gehen wir in den Ausdruck. Mit der Stimme äußert sich unsere Person. Wenn wir Stimmigkeit erleben, wenn wir stimmig sind, dann trägt auch die Stimme, dann hat sie Volumen, Weite, Klarheit und Ausdruckskraft. Diese Stimmigkeit, die Harmonie der Stimme, hängt vom Fluss des Atems ab.

Innenraum und Außenraum
Diese drei Räume, die wir nicht als anatomische Strukturen definieren, aber als Zentren und Kraftorte spüren können, liegen in unserem Innenraum. Mit allen unseren Möglichkeiten tragen wir die Fülle des Universums in uns. Wir sind Mikrokosmos im Makrokosmos. Der Makrokosmos Welt ist der Außenraum. Beide stehen miteinander in Verbindung, zwischen beiden findet ein Austausch statt. Dieser Austausch ist dann fruchtbar, wenn wir beide Räume empfinden können. Wenn wir uns vertrauensvoll bejahen und annehmen, können wir uns mit allen unseren Fähigkeiten innerlich entfalten und uns auch nach außen „äußern“. Dann ist die Wand zwischen Innen- und Außenraum  lebendig, elastisch und durchlässig. Sie ist nicht von Ängsten verhärtet und verdichtet, uns zum vermeintlichen Schutz. Sie ist aber auch stabil genug, um nicht alles in uns hinein zu lassen, was auf uns einwirkt. Denn wir sind auch Empfangende aus dem Außenraum. Wenn wir präsent und lebendig in unseren Räumen sind, wenn uns unser Atem erfüllt, dann findet ein gesundes, fruchtbares  Schwingen zwischen unserem Innen- und dem Außenraum statt.

Atemrhythmus
Atmung ist rhythmisches Geschehen: Inspiration – Exspiration – Atempause. Diese drei Phasen sind gleichwertig. Ist die Inspiration vom anatomisch-physiologischen Geschehen, also vom Muskelgeschehen her, die aktive Phase, so ist sie von der inneren Haltung her eine zwar wache, aber eher passive Phase. Aktive Passivität ist nötig, um sich inspirieren zu lassen. Je gelassener und entspannter wir sind, umso intensiver ist die Inspiration. Wir können uns den Atem nicht holen, wir dürfen, wir müssen ihn sogar „einfach“ kommen lassen. Die Exspiration ist die Phase des Ausdrucks, wie das Beispiel mit der Stimme zeigt. Je gelassener wir uns inspirieren lassen, je erfüllter wir sind, umso kraftvoller können wir uns ausdrücken. Der Exspiration folgt die Atempause. Sie ist eine schöpferische Pause, aus der heraus der Atem von alleine wieder kommt.

Sammeln – Empfinden – Atmen
Über die Schritte „Sammeln – Empfinden – Atmen“ können wir unser Atemgeschehen erfahrbar machen. Es geht nicht darum, unseren Atem bewusst zu steuern. Es geht darum, dass unsere Atemkraft uns wirklich zur Verfügung steht, dass wir uns selbst zur Verfügung stehen, dass wir in uns sind und dass niemand, wie es die Redewendung sagt, „außer sich ist“. Hierfür braucht  es Sammlungsfähigkeit. Diese Fähigkeit ganz anwesend zu sein, ganz mit seinem Wesen in sich selbst zu sein, wird durch das Schaffen von Empfindung erleichtert. Ganz konkret durch Berühren des Körpers, durch Kneten des Fußes, Massieren der Hand etc. schaffen wir bewusstes Wahrnehmen unserer selbst. Wo wir uns empfinden, dorthin können wir uns auch sammeln – wo wir gesammelt und anwesend sind, dorthin geht unser Atem – wo unser Atem geht, dort stehen wir uns zur Verfügung, dort sind wir lebendig. Mit dieser Gesetzmäßigkeit arbeitet man sowohl in der Einzelbehandlung des Klienten als auch bei der Anleitung von Übungen in der Gruppe.

Atembewegung
Atem ist Bewegung und Bewegung ist Atem. Beim Einatmen wird der Brustkorb weit, beim Ausatmen wird er wieder schmal. Der ganze Körper bewegt sich in einem ununterbrochenen Wechselspiel von „weit“ und „schmal“. Im „weit werden“ nehmen wir den Atem auf, im zurück schwingenden „schmal werden“ geben wir den Atem wieder ab. Wir werden fortlaufend von diesem schwingenden Atem bewegt. Dehnung schafft einen Einatemreiz. Wenn ich spielerisch meine Hand dehne und sie dann wieder löse, stellt sich ein bestimmter Atemrhythmus ein: Mit der Dehnung, dem weit werden, kommt der Atem, mit dem Lösen, dem schmal werden, geht der Atem.

Maß und Fülle im Einatem
Das Spiel mit der Hand zeigt noch eine weitere Gesetzmäßigkeit, die uns der Atem lehrt. Dehne ich die Hand in einer öffnenden, maßvollen Geste, so kommt der Atem von alleine. Der Atem erfüllt mich, ich erlebe Fülle. Strecke ich die Hand, überdehne ich sie also, so ist der Atem blockiert, er fließt nicht mehr in mich hinein. Eine Überforderung schafft keine Steigerung der Inspiration, also der Qualität. Eine Unterforderung aber auch nicht. Entscheidend ist es, mein individuelles Maß zu finden. Die Arbeit am Atem lehrt es mich. Lebe ich in meinem Maß, dann erlebe ich Fülle, lausche ich auf meinen Atem, dann finde ich mein Maß. Hier geht es um Qualität und nicht um Quantität. Ich nehme mich wahr, finde mein Maß und erlebe Fülle. Fülle ist keine objektiv festlegbare Menge. Voller als voll geht nicht. Fülle erleben ist eine subjektive, individuelle Seins-Erfahrung.

Ausdruck im Ausatem
Der Ausatem fließt, wenn ich – um bei dem Spiel mit der Hand zu bleiben – diese wieder löse. Ich darf, ich muss sogar loslassen, um in den Ausatem, in den Ausdruck zu gehen. Loslassen heißt nicht sich fallen lassen, sich verlieren. Loslassen hat viel mehr mit Gelassenheit, mit Erlöstheit zu tun. Aus der Seins-Erfahrung, die mir zufließt, die mir geschenkt wird, schöpfe ich Zuversicht, Vertrauen und Gelassenheit. Auf dieser Basis kann ich mich mit allen meinen Qualitäten entfalten, so wie ich bin, wie ich mich wahrnehme – und nicht, wie ich meine sein zu müssen.

Ruhe in der Atempause
Neben dem Ein- und Ausatem hat der Atemrhythmus noch ein drittes Element: die Atempause. Sie ist eine schöpferische Pause, schöpferisch im doppelten Sinn. Wir benötigen die Pause, um wieder neu Atem schöpfen zu können. Wer in körperlicher oder seelischer Anstrengung pausenlos atmen muss, der weiß, wie beklemmend das ist und dass das Einsparen der Pause zugunsten der folgenden Einatmung in keiner Weise die Atemqualität verbessert. Um den Atem neu zu schöpfen, zu empfangen, braucht es eine Pause. Mit dem neu geschenkten Atem werde ich aber auch selbst schöpferisch, kreativ. Ich verwirkliche mich selbst. Dies ist unsere tiefste Bestimmung: unsere Selbstverwirklichung.

Selbstverwirklichung
Alle Elemente hierfür finden wir in der Arbeit mit dem Atem. Um uns selbst verwirklichen zu können, müssen wir unser Selbst wirklich kennen. Wir müssen uns wahrnehmen, unsere Wahrheit erfahren. Der Atem lügt nie, er spiegelt uns alles wider. Wenn wir lernen, ihm zu lauschen, dann spüren wir – dann sind wir in uns selbst, dann erfahren wir Fülle. Gelingt uns das nicht, dann dürfen wir offen bleiben, dürfen uns auf die Suche begeben und uns weiter kennen lernen. Wenn wir am Atem bleiben, tut sich auch die nächste Erkenntnis auf. Die Arbeit mit dem Atem ist eine Lebensaufgabe, die nie endgültig erfüllt ist, da sie auch gleichzeitig ein Prozess ist, der fortlaufendes Wachstum mit sich bringt. Hierfür ist der „Erfahrbare Atem“ eine Methode im eigentlichen Sinn des Wortes. Der griechische Ursprung „methodos“ meint „Weg zu etwas“. So ist der „Erfahrbare Atem“ ein Weg, sein Leben zu leben und sich ganz in seinem Leben zu verwirklichen.