„Das erste Wirkende eines Lehrers ist sein „Sein“, das zweite das, was er tut und das dritte das, was er sagt.“
 
Diese Aussage wird Romano Guardini zugeschrieben, einem Religionsphilosophen, der am Übergang vom 19. ins 20. Jhd. gelebt und gewirkt hat. Was für einen Lehrer gilt, gilt für jeden Menschen. Insbesondere gilt es für diejenigen, die bei anderen Menschen etwas bewirken und verändern wollen. Das sind Menschen in pädagogischen und therapeutischen Berufen, das sind aber auch Menschen in Leitungspositionen, die Geschäftsideen entwickeln und Betriebsphilosophien vermitteln und mit Leben füllen wollen. Authentizität gilt für diesen Auftrag am wirkungsvollsten. Authentisch ist, bei wem Tun und Reden mit dem eigenen „Sein“ übereinstimmen. Authentisch ist, wer kongruent ist. Diese Ebene eröffnet sich in der Arbeit mit dem Atem und schafft eine stimmige Basis für alles, was wir erreichen wollen. Die eigene Persönlichkeit kommt zum Tragen, Selbstvertrauen, Selbstsicherheit und wirkungsvolles Auftreten stellen sich ein.

Das Bedürfnis des Menschen nach Sicherheit ist groß.

„Im Trachten nach Absicherung – das gilt bis heute – schafft man am besten klare dualistische Fronten: Gut – böse; hell – dunkel; erlaubt – verboten; Tag – Nacht; bewusst – unbewusst; Verstand – Gefühl; Mann – Frau. Klare Trennung: entweder – oder. Das Sein des Menschen wird gespalten. Dafür herrschen Ordnung und Gesetz. Der Boden für die Leistungsethik ist bereitet. Daran kann man sich halten.“
Gagern, Friedrich von, „Der andere Gott“ 1990 S. 77

Diese Gesetzmäßigkeiten bilden die Leitplanken für ein geordnetes und ruhiges Leben. Zufriedenheit und Erfüllung bieten sie nicht. Jeder Mensch hat als Individuum das Bedürfnis, sich selbst zu verwirklichen, seine eigene Wahrheit, seine ureigene Wirklichkeit zu finden und diese schöpferisch zu gestalten und zum Ausdruck zu bringen.

„Macht nun der Dualismus aus diesen Verschiedenheiten ein Entweder-Oder, so sucht die Integration nach einem Sowohl-als-Auch. Statt eines unfruchtbaren Gegeneinander … suchen wir nach dem Miteinander, nach der Vereinigung der Gegensätze, nach Ergänzung, nach Ganzheit.“
ebd. S. 146

Der Mensch möchte sich in seiner Ganzheit entfalten, er möchte sein Leben gestalten dürfen, ohne unliebsame Anteile abzuspalten oder verstecken zu müssen. Die Integration des Atems ermöglicht, dass Neues geschaffen wird, nicht das eine oder das andere, sondern etwas Drittes, etwas noch nicht da Gewesenes. Die Tradition des Christentums besingt den „Creator Spiritus“ – den „Schöpfer Geist“. Angeschlossen an den Atem, an den Geist, wird der Mensch schöpferisch tätig, wird er kreativ und erlebt Selbstverwirklichung in der ihm gemäßen Form.
 

Musikerinnen und Musiker bringen sich mit ihrem Instrument selbst zum Klingen, sei es durch die eigene Stimme, sei es mit einem Blas- oder irgendeinem anderen Instrument. Dementsprechend sensibel ist das Ausführen dieser Kunst, soll es doch eine spielerische Leichtigkeit haben, ein Instrument zu spielen.

Nicht immer ist Musikern die Spielfreude gewiss. Der innere und äußere Druck, die physischen und psychischen Anforderungen sind enorm. Dies gilt für Menschen, die ein Instrument erlernen genau so wie für die, die im Berufsleben stehen. Sie sind einem hohen Erwartungsdruck ausgesetzt, da mit Spitzenleistungen, wie sie die Medien tagtäglich ins Haus bringen, gemessen und verglichen wird. Perfektion hat einen höheren Stellenwert als persönliche Unvergleichbarkeit. Kritische Ohren haben nicht nur der Rezensent, sondern das gesamte Publikum, der Dirigent und die Kollegen. Manchmal leiden Musiker unter ihrem Beruf. Die Flucht zu Alkohol und Medikamenten ist nicht selten.

Ungewöhnliche und unregelmäßige Arbeitszeiten machen Familienleben und Freizeit schwer planbar. Entspannung, Regeneration und Rekreation kommen zu kurz. Dies schlägt sich körperlich nieder. Schmerzsyndrome, Schlaflosigkeit, muskuläre Verspannungen insbesondere im Schulter-Nacken-Bereich und in den Armen, Nachlassen der Lippenspannkraft, Stimm- und Atemprobleme stellen sich ein. Gefördert wird dies durch einseitige Haltung für das jeweilige Instrument, durch spezielle Instrumentenspieltechnik, die jede Musikrichtung erfordert, durch eine sehr hohe Schallexposition, der Musiker ausgesetzt sind.

Das Proben und Aufführen unterschiedlicher Musikstile erfordert ein Umstellen oft innerhalb weniger Stunden. Auf alles muss reagiert werden: auf die eigene Stimme, die Stimmen der anderen, auf den Dirigenten. Dieses komplexe Geschehen erfordert Höchstleistung. Es gilt immer den Moment zu gestalten. Verbesserungsmöglichkeiten wie sie ein Maler oder Bildhauer hat, sind nicht gegeben.

Ein jahrelanger Drill drängt zu noch mehr Üben, wenn Schwierigkeiten auftreten. Die Ideen der Salutogenese und der Resilienz sind hier eine wohltuende Alternative: Wie halte ich mich gesund? Wie kann ich psychische und physische Widerstandskraft aufbauen? Auf diese Fragen ist Atemtherapie eine Antwort. Sie baut Spannungen ab, schafft Anschluss an die eigene Energie und öffnet den Zugang zur Spielfreude. Wenn „es spielt“, kann der Flow erlebt werden, der Selbstausdruck, Selbstdarstellung und Befriedigung schenkt.

So nervenaufreibend es für Eltern sein mag: der Säugling hat die optimale Stimme. Er kann stundenlang in unüberbietbarer Lautstärke schreien, ohne heiser zu werden. Auch wenn es in unseren Ohren kein ästhetischer Wohlklang ist, erreicht er das, was er sich wünscht: Aufmerksamkeit und Zuwendung.

Der Säugling hat von Geburt an eine reine Zwerchfellatmung. Zudem ist er frei von Ängsten, die ihm den Atem –  und damit die Stimme –  verschlagen könnten. Diese Qualitäten kommen uns in der weiteren Entwicklung weitgehend abhanden.

Unsere Stimme ist zu Ton gewordener Atem, genauer: zu Ton gewordener Ausatem. Sie ist dann ausdauernd, fließend und klar, wenn der von Natur aus locker eingehängte Kehlkopf im Hals frei schwingen kann. Anspannungen, die sich im Hals und im Schulterbereich niederschlagen, verhindern dies.

Auch wenn wir unseren Atem bewusst steuern können, geschieht er unbewusst. Er reagiert auf körperliche, geistige und seelische Anforderungen wie ein Seismograph, ohne dass wir es wahrnehmen. Unser Atembild verändert sich entsprechend. Der Atem wird eng und flach. Das Zwerchfell schwingt nicht mehr frei. Es kommt zu muskulären Verspannungen.

In der Atemtherapie wird wieder ein freier Atemfluss geschaffen. Verspannungen lösen sich und unser gesamtes Wohlbefinden wird gesteigert. Damit löst sich auch unsere Stimme, sie wird weit und gewinnt an Volumen, Individualität und Ausdruckskraft.